Zwei Reformen der Verfassung – und dann?

Rhein-Lahn-Zeitung, 08. Mai 2018:

Geschichte Bielefelder Professor weckt Interesse an einem weiteren Burggespräch – Premiere in historischer Kulisse der Burg

Nassau. „Das Nassauer Land lebt und strahlt bis nach Ostwestfalen.“ Mit diesen Worten begrüßte Landrat Frank Puchtler den Bielefelder Professor Dr. Michael Kotulla zum Vortrag auf Burg Nassau. Auch „Burgherrin“ Dr. Angela Kaiser-Lahme, Chefin der Generaldirektion Kulturelles Erbe des Landes Rheinland-Pfalz, konnte Puchtler willkommen heißen. So weckte das „Erste Nassauische Burggespräch“ in historischer Kulisse und vor einem interessierten Publikum hohe Erwartungen. Günstige Umstände lassen, wie Stadtbürgermeister Armin Wenzel wünschte, im kommenden Jahr auf eine Fortsetzung hoffen. Denn die Initiatoren des Burggesprächs, der Veranstaltungsort, der Referent, die Epoche und das Thema passten idealtypisch zueinander.

Landrat Puchtler, von Professor Kotulla als „geborener Lokalpatriot“ geadelt, hat als Schirmherr das Burggespräch nach Nassau geholt. Der Bielefelder Lehrstuhl erforscht in einer Mammutstudie die Verfassungsgeschichte der deutschen Länder von 1806 bis 1818, darunter auch die des Herzogtums Nassau. Die G. und I. Leifheit-Stiftung fördert die Forschung und Publikation. Geschäftsführer Ingo Nehrbaß sprach ein Grußwort. Die Stadt als Namensgeberin und Stammsitz der ehemaligen Nassauischen Dynastie ist für jeden Impuls offen. Und letztlich ist der Geschichtsverein ständiger Vermittler des nassauischen Erbes am Ort. Hinzu kommt als Räumlichkeit mit besonderer Atmosphäre der Rittersaal der Burg. Vor diesem Hintergrund konnte Professor Kotulla alle Register seiner Forschungsarbeit ziehen.

Die Verfassungsgeschichte von 54 Staaten, von Anhalt bis Würzburg, erforscht Kotulla mit seinem Team am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität in Bielefeld. Jede Publikation wird etwa 2000 Seiten umfassen. Nassau erschien zunächst nicht als vordringliches Forschungsobjekt. Heute sieht Kotulla das anders. „Nassau ist umwerfend spannend und äußerst ergiebig“, ist sein Resümee. 

Seinen Vortrag „Nassau als Pionier der deutschen Verfassungsgesetzgebung?“ gliederte er in zwei Kapitel. Zunächst referierte er die Ausgangslage, in der sich das Haus Nassau im Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert befand. Daran schloss sich die Verfassungsgesetzgebung an, die in zwei Etappen erfolgte. Im Jahr 1814 kam es zu einem Landständeedikt, für Kotulla ein reines „Alibi“, wogegen ein verfassungspolitischer Neubeginn in den Jahren 1815/1816 zur echten Staatsorganisationsreform führte.

Eine Veranstaltung, die nach Fortsetzung verlangt: Der Bielefelder Rechtswissenschaftler Professor Dr. Michael Kotulla (rechts) referiert bei der Premiere der Nassauer Burggespräche über die Verfassungsgeschichte des Herzogtums Nassau. Foto: Markus Hunkenschröder/Uni Bielefeld

Verfassungsgesetzgebung lässt sich ohne den politischen Kontext nicht verstehen. So stellte der Bielefelder Professor die Ausgangslage des Herzogtums Nassau vorweg. Die Nassauer Dynastie war Ende des 18. Jahrhunderts marginalisiert. Sie hatte sich in fünf Linien aufgespalten und das Territorium glich einem Flickenteppich. Erst ein Erbvertrag von 1783 machte der Aufsplitterung ein Ende. 

Gewinner waren die Nassauer bei der Säkularisierung. Sie verloren ihre linksrheinischen Gebiete, erhielten als Entschädigung aber weit mehr an Fläche und Einwohnern. Ein guter „Deal“, wie Professor Kotulla meinte. Doch nach wie vor streckte das revolutionäre Frankreich seine Hand nach Nassau aus. Erst ein Geheimvertrag schafft Sicherheit. Die Rheinbundakte 1806 erklärt Nassau zu einem Staat, die Nassau-Usinger durften sich als Herzöge titulieren, jedoch existierte das Herzogtum unter dem Protektorat Napoleons. Trotz der Liaison mit Frankreich schafften es die Nassauer laut Kotulla nicht, den Code Napoléon zu übernehmen, der die feudale Gesellschaftsordnung hinter sich ließ.

Mit dem Herzogtum beginnt die Nassauische Verfassungsgeschichte, wobei Professor Kotulla deutlich machte, dass es sich dabei um eine rechtliche Grundordnung handelte, die von Edikten über das Militär bis zum Steuerrecht reichte. In Nassau, so Kotullas Einlassung zum Militärischen, wurde die Truppenlieferung für die napoleonische Armee zur Staatsräson. Das ging nicht ohne Widerstand und Tumulte ab. „Auch der Nassauer hat sich nicht alles gefallen lassen“, gab Referent Kotulla zum Besten. Die Steueredikte trafen auf eine völlige Zersplitterung. Ein Sammelsurium von mehr als 900 Steuern und Abgaben wurde im Herzogtum erhoben, bevor schließlich die einheitliche Staatsorganisation eingeführt wurde.

In letzter Stunde vollzog Nassau 1813 den Austritt aus dem Rheinbund. Eine erste Verfassungsreform fand 1814 unter dem maßgeblichen Einfluss des Freiherrn vom Stein statt. Es wurde ein Landständeedikt mit einem Deputiertenausschuss beschlossen. Jedoch waren nur zwei Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt und davon nur ein Zehntel als Landesdeputierte wählbar. Den Grund für die Landständeordnung sah Professor Kotulla nüchtern: „Die Landesherren waren pleite, ihre Schulden wollten sie auf den Staat übertragen.“ Die zweite Verfassungsreform 1815/1816 kennzeichnete Kotulla als Neubeginn. Es wurde eine einheitliche Staatsorganisation geschaffen mit einer Zentralverwaltung, die einen Durchgriff bis in den „letzten Winkel“ des Landes erlaubte. Selbst der „Dorfschulze“ wurde ernannt und nicht gewählt, so Kotulla. 

In dieser zweiten Reform erkannte der Bielefelder Professor eine Pionierleistung der Nassauer darin, dass sie eine funktionierende Verwaltung, ein „straffes französisches Modell“, etablieren konnten. Was sich verfassungsrechtlich danach entwickelte, blieb offen und könnte Gegenstand des „2. Nassauischen Burggesprächs“ werden. Mit weniger Fülle ließe das Burggespräch dann einen interaktiveren Gedankenaustausch zu.